VO Künstlerische Gestaltung, SoSe 2022
Vor hundert Jahren in den Sommern 1921 und 1922 trafen sich Dadaisten wie Hans Arp, Tristan Tzara, Johannes Baargeld und die surrealistischen Dichter André Breton und Paul Éluard mit Max Ernst im Gasthof Sonne in Tarrenz bei Imst. Sie streiften durch die Berglandschaft, begeisterten sich für die Natur, schufen Zeichnungen und Collagen, schrieben Texte, editierten ein Buch und verfassten das Manifest Dada au grand air. Der Sängerkrieg in Tirol.
Auf dem Titelblatt des vierseitigen Pamphlets findet sich die aus Holzstichen gefertigte Collage Die Leimbereitung aus Knochen von Max Ernst. Das Titelbild des Tirol-Manifests war die zweite Totalcollage Ernsts und markiert den Übergang von DADA zu Surrealismus. Ernst zitiert eine Beschreibung der Diathermie, eine medizinische Therapie, bei der Wärme im Körpergewebe mittels hochfrequenter Ströme erzeugt wird, um Ischialgie, Rheuma, Arthrose oder allgemein eine Verbesserung der Durchblutung sowie eine Anregung des Stoffwechsels zu bewirken.
Elektrizität galt als Funke der Aufklärung und prägte spekulativ die Obsessionen des 19. Jahrhunderts. Tote Körper wurden reanimiert und Mary Shelleys Viktor Frankenstein erweckte Leichenteile durch Blitze zu künstlichem Leben. Bis heute mischen sich „elektro-alchimistische“ Ängste und Hoffnungen von der tödlichen Gefahr elektromagnetischer Strahlung bis heilender Orgon-Energie in öffentliche Diskurse.
Max Ernst schafft eine bildnerische Poesie, die auf eine technische Poesis des Körpers im Maschinen- und Industriezeitalter verweist. Über die Readymades der Maschinen – und aller bild- und drucktechnischen Produktions- und Reproduktionsverfahren – hinaus, wird der menschliche Körper in der Collage Die Leimbereitung aus Knochen zur Fabrik. Die Bilder entspringen nicht nur imaginär der menschlichen Phantasie und Vorstellung, sondern auch materiell der physischen Körperlichkeit. Der Leim, mit dem die Papierschnipsel der Collage fixiert werden, wird vampiristisch aus menschlichen Knochen gewonnen. Der Mensch wird zur Quelle und Maschine imaginärer und materieller Bildwelten, die ein verändertes Verhältnis zur Welt als eine bis in unsere Gegenwart erschütterte Conditio humana beschreiben. Bild und Leim, Geist und Materie begegnen sich wie in der literarischen Urszene der Collage in Lautréamonts Die Gesänge des Maldoror „schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“. Im Sinne des Jahresthemas des studio3 IT’S ALL PART OF THE GAME, das die Assemblage als Versammlung und Mischung des Imaginären und Virtuellen mit Materialitäten sowie als Humus für ein neues ästhetisches Denken und Handeln in den Mittelpunkt rückt, werden im Sommersemester 2022 in der Lehrveranstaltung Künstlerische Gestaltung aktuelle Methoden der Collage und Assemblage experimentell erprobt. Gefundene Materialien (found footage) werden fragmentiert und neu konfiguriert (gesampelt), woraus die neue Bildgrammatik der Collage und Assemblage resultiert. Es geht um unbelebte und belebte Dinge, um das Zusammentreffen von Menschen, Organismen, Maschinen und Prozesse. Es geht um Evolution und Vergänglichkeit, um Leben und Tod.
Der Schwerpunkt liegt dieses Jahr auf der Ausstellung am Ende des Semesters. Die Ausstellung präsentiert nicht eine Akkumulation singulärer Werke, sondern deren Vergesellschaftung als räumliche und semantische Struktur. Die Entwicklung und Erprobung neuer Möglichkeiten der Präsenz jenseits der Repräsentation sind integraler Bestandteil der Lehrveranstaltung, um das einzelne künstlerische Objekt räumlich, atmosphärisch und performativ zu erweitern. Die Ausstellung wird als lebendiger Organismus, als räumliches Gestell und poietische Fabrik oder im Sinne von Max Ernst als Total-Assemblage künstlerisch gestaltet. Au grand air!
Betreuung: Gerald Nestler, Karin Ferarri, Maurizio Nardo, Scott Clifford Evans, Sylvia Eckermann, Volkmar Klien, Wolfgang Gantner, Rivka Rinn, Thomas Feuerstein